Von Populorum progressio zu Sollicitudo rei socialis
Prof. P.Alfonso Carrasco Rouco
Theologiefakultät "San Damaso", Madrid
Die von der Kirche durch die Enzykliken gelehrte Sozialdoktrin, von Populorum progressio bis zu Sollicitudo rei socialis, ist in ihrer Gesamtheit und in ihren Hauptzielen durch die Kontinuität zur vorausgehenden Doktrin gekennzeichnet, deren Ausgangspunkt die Rerum novarum ist, die jedoch auch neue Perspektiven, Formulierungen und Thematiken aufweist; eine Erneuerung, die durch die Integration der Konzilbetrachtungen über die Kirche symbolisiert werden kann und durch die Beziehung zur Welt.
Die Kontinuität bezieht sich auf zwei wesentliche Faktoren, die seit Anbeginn, seit Leo XIII., in der päpstlichen Sozialdoktrin wiederzufinden sind: einerseits der Staat, die politische Macht, die nicht in sich selbst begründet ist, im menschlichen Einvernehmen und Willen, sondern im von Gott gegebenen moralischen und religiösen Zusammenhang; wo, andererseits, diese Tatsache vergessen oder gar geleugnet wird indem man gegen die Kirche kämpft, wird die Gesellschaft auf trügerischen Fundamenten errichtet, die notwendigerweise zu Ungerechtigkeiten und schwerwiegenden Problemen führen, die dann auf unangemessene Weise gelöst werden, auf falschen Ideologien aufbauend.
Diese beiden Faktoren sind im Grunde genommen auch heute noch in der postkonzilären Sozialdoktrin vorhanden, wenn auch durchaus Unterschiede bestehen, die auf die verschiedenen theologischen und pastoralen Formen zurückzuführen sind, sei es in Bezug auf die sozialen Fragen, wie auch auf die historischen Zusammenhänge.
Der Beitrag der Kirche zum sozialen Leben wird nichtmehr im Rahmen ihrer Beziehung zu einem Staat gesehen, der historisch die eigenen Grenzen und die Abhängigkeit von Gott anerkennt, das heisst die religiöse Mission der Kirche, ihre Rechte und Prärogativen; dieser Beitrag wird auch nicht als untrennbar mit der Annahme eines bereits bestehenden, dem Staat vorangehenden, natürlichen Recht verbunden. Der Beitrag der Kirche durch ihr Magisterium und durch das Leben aller Gläubigen und aller Gemeinschaften, wird nun vor allem als ein Dienst zur Verteidigung und Förderung des Menschen, seiner Würde und seiner Grundrechte gesehen.
Auf diese Art und Weise offenbart sich also der wesentliche Aspekt der Lehren des Vatikanum II über die Beziehung zwischen Kirche, Welt und Gesellschaft: die Kirche ist Zeichen und Schutz des transzendenten Wesens des Menschen; des weiteren wird der Dienst am Menschen, seine weltliche und ewige Berufung, als das grundlegende Prinzip seines Handelns in der politischen Gemeinschaft betrachtet (GS25).
Auf diese Art und Weise, im Einklang mit den aktuellen historischen Umständen, findet der Mensch seinen Brennpunkt, das heisst den tiefergehenden Grund, der die pastoralen Bemühungen rechtfertigt und der sich in der Sozialdoktrin offenbart: die Leidenschaft gegenüber der Würde und dem Schicksal des Menschen, die in den grossen Fragen und Herausforderungen mit denen sich das soziale, politische und wirtschaftliche Leben konfrontieren muss, zum Tragen kommen.
Dieser anthropologische Ansatz ist den vorhergehenden Lehren durchaus nicht fremd. Man kann z.B. an die Art und Weise erinnern, mit der Pius XI. das Prinzip der menschlichen Würde verteidigt in „Mit brennender Sorge" (1937), oder auch an seine kurzgefasste Bestätigung der Grundrechte in Divini redemptoris (1937) denkt, die dann 1942 von Pius XII. in seiner Weihnachtsansprache detaillierter aufgegriffen wird, sowie an die äusserst bedeutende Lehre Johannes XXIII. zu diesem Thema in Pacem in terris (1963).
Auf die Konzilbetrachtungen Bezug nehmend, wird Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum progressio (1967) eine Kirche beschreiben, die mit der Welt einen Dialog führt: "auf Grund ihrer Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft" mit christlicher Liebe das bietend „was ihr allein eigen ist: eine umfassende Sicht des Menschen und des Menschentums" (PP 13).
Die historische Situation die er betrachtet ist gekennzeichnet durch die weltweite Verbreitung der Industriegesellschaft, einschliesslich aller Reichtümer und grossen Probleme, die diese mit sich bringt; hinzu kommt die zunehmende Ungleichheit zwischen den Nationen sowie zwischen den sozialen Gruppen innerhalb eines Landes. Paul VI. teilt seine Lehre in zwei Segmente; er verkündet erst und erklärt dann gewisse Aktionen, die auf die Verwirklichung einer solidarischen Entwicklung der Menschheit ausgerichtet sind.
Paul VI. bietet keine technischen Lösungen, sondern ein Mensch-Sein, welches es dem modernen Menschen ermöglicht, sich selbst zu finden, konkret ein (qualitatives) Wachstum von einer wahren und vollkommenen Entwicklung des Menschen und der Menschheit zu unterscheiden. Indem er es ablehnt die Wirtschaft vom menschlichen Aspekt zu trennen, unterstreicht er: „ Mehr haben ist also weder für die Völker noch für den Einzelnen das höchste Ziel. Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten. Es ist unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch werde, aber es sperrt ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt.(...) Das ausschließliche Streben nach materiellen Gütern verhindert das innere Wachstum und steht seiner wahren menschlichen Grösse entgegen. Sowohl die Völker als auch die Einzelnen, die von der Habsucht infiziert sind, offenbaren deutlich eine moralische Unterentwicklung." (PP 19)
In diesem Sinne, und nachdem er an die universelle Bestimmung der irdischen Güter erinnert hat, an den, für den Menschen bedeutenden, Sinn der Arbeit, der Notwendigkeit sozialer Formen der Zusammenarbeit, sowie an die Bedeutung der Familie, der Erziehung und der Kultur, richtet Paul VI. eine kurze Kritik an den liberalen Kapitalismus und endet, indem er an Hand eines Zitats von H. de Lubac, an das Herzstück seiner Lehre erinnert: „Zweifelsohne kann der Mensch die Welt ohne einen Gott gestalten, doch ohne Gott kann er sie nur gegen den Menschen gestalten" (42).
Der zweite Teil der Enzyklika empfiehlt konkrete Massnahmen zur Umsetzung der Pflicht der Solidarität und zur Verwirklichung der Brüderlichkeit und der Entwicklung der Völker: z.B. die Schaffung eines internationalen Fonds, der mit einem Teil der internationalen Ausgaben finanziert wird; einen wahren Dialog, der das Problem der Verschuldung und der Finanzbeziehungen zwischen den Ländern angeht; die Frage der ausgewogenen, chancengleichen Handelsbeziehungen; die Erfordernis einer internationalen Autorität, die eine wirkliche rechtliche und politische Autorität besitzt, usw.
Schliesslich sagt er, dass Entwicklung der neue Name des Friedens ist (76); zu diesem Zweck fordert er, nach Verweis auf die Rolle der Hierarchie welche die moralischen Prinzipien wahrhaftig lehrt und interpretiert, alle Gläubigen auf, die freie Initiative zu üben, in gemeinsamer Bemühung, angespornt durch die Barmherzigkeit und Opferfähigkeit, um die Mentalität, die Gesetze und sozialen Strukturen in denen sie leben mit evangelischem Geist zu erfüllen (81-82).
In der Enzyklika Octogesima adveniens wird einleitend daran erinnert, dass das ewige Licht des Evangeliums der Kirche die Möglichkeit gibt, einen spezifischen Beitrag zu leisten und mit der Gesellschaft einen Dialog zu führen, wobei drei Momente zu unterscheiden sind: die Grundlagen der Betrachtungen, Urteilsmassstäbe und Richtlinien des Handelns (4).
Die Grundlagen der Betrachtungen wurzeln in den Evangelien und ordnen sich um eine Vision des Menschen, seines Wesens und seiner Würde. Der einleitende Moment ist also die Überzeugung der Notwendigkeit des Evangeliums um zu einer wahrhaftigen Verwirklichung des Mensch-Seins zu gelangen. Meint der Mensch, er genüge sich selbst, dann geht er unter: ihm fehlt die moralische Kraft die ihn wahrhaft Mensch werden lässt, das wahre Selbstbewusstsein, das Bewusstsein des Lebens, des eigenen Schicksals; es fehlt ihm das wahre Vorbild der Menschlichkeit, das heisst der Sohn Gottes und des Menschen (Weihnachtsansprache 1969).
Octogesima adveniens widmet einen grossen Teil – den ganzen zweiten Teil – der Definition eines Urteils über die grossen ideologischen Strömungen der zeitgenössischen Gesellschaft.
Einleitend wird daran erinnert, dass das politische Handeln aufbauen muss auf einem konsequenten Gesellschaftsprojekt, das ein Verständnis des Menschen erfordert. Es ist jedoch nicht Aufgabe des Staates oder der politischen Parteien eine Ideologie aufzuzwingen, die dann eine Diktatur des Geistes wäre; es ist Sache der kulturellen und religiösen Gruppen, die letztlich gültigen Grundprinzipien über Mensch und Gesellschaft zu entwickeln.
Im Weiteren wird die tiefe Zweideutigkeit der Ideologien aufgezeigt, z.B. des Sozialismus, Marxismus oder Liberalismus, wobei die falschen Auffassungen über Freiheit und Handlungsfähigkeit des Einzelnen und der Gesellschaft hervorgehoben werden. Die Christen werden aufgefordert, gegenüber diesen grossen kulturellen Strömungen, Unterscheidungsfähigkeit zu üben, um sich nicht darin zu verstricken wie in einem beschränkten und totalitaristischen System. Gleichzeitig jedoch müssen sie dies tun ohne ihren Dienstgeist und ihren Einsatz zugunsten des Nächsten zu vernachlässigen (36).
Er geht dann ausführlich auf das Phänomen des Wiederaufkommens der Utopien ein. Wenn sie auch manchmal ein Vorwand sein können um sich in imaginäre Welten zu flüchten, so bringen sie doch eine kritische Dimension mit sich und die Offenheit gegenüber neuen Möglichkeiten, gegenüber der Zukunft. Die tiefe Wahrheit dieser Haltung wird durch den Geist ermöglicht, der den in Christus erneuerten Menschen beseelt und ihn Horizonte und Sicherheiten (in die er sich liebend gern flüchten würde), Systeme und Ideologien überwinden lässt:" Im Herzen der Welt besteht das Mysterium des Menschen, der sich selbst als Sohn Gottes erkennt im Laufe eines historischen und psychologischen Entwicklungsprozesses (...) So siegt die Dynamik des Glaubens über die kleinlichen Berechnungen des Egoismus" (37 sinngem.).
Schliesslich weist er auf die derzeitige Herausforderung hin, die aus einem gewissen Positivismus heraus entsteht, bei dem der Mensch nur als x-ter Gegenstand von Forschungen betrachtet wird die sein Bestehen und Schicksal erklären; dadurch entsteht die grosse Gefahr des Reduktionismus und der Manipulationen. Die Humanwissenschaften umfassen verschiedene, jedoch nur partielle Aspekte des Menschen, und aus diesem Grund „entgehen die Gesamtheit und der Sinn ihrem Blick", und statt „das Mysterium des Menschenherzen zu ergründen, weiten sie es aus und geben keine volle und endgültige Antwort"; die Kirche bietet dagegen eine globale Vision des Menschen und der Menschheit (38).
Dritter und vierter Teil der Enzyklika sind der Betrachtung und einer Reihe von Aktionsrichtlinien gewidmet in bezug auf die neuen Probleme, mit denen ein Christ in der heutigen Welt konfrontiert wird. Besonders betont wird die Notwendigkeit von mehr Gerechtigkeit, einer Veränderung der Herzen und der Strukturen, einer wahren Verantwortung im politischen Handeln. Diesbezüglich wird daran erinnert wie wichtig es ist, dass sich die Katholiken um ein soziales und politisch angemessenes Handeln bemühen (49), die legitime Unterschiedlichkeit der möglichen Optionen erkennend, die jedoch auf dem Wunsch aufbauen die Gesellschaft im christlichen Sinne und mit wahrer Barmherzigkeit zu verändern (50).
In seiner richtungweisenden Enzyklika Redemptor hominis, erinnert Johannes Paul II daran, dass das Vatikanum II „in seiner tiefgehenden Analyse der zeitgenössischen Welt zu der Einsicht gelangte, dass der Mensch das wichtigste Element der sichtbaren Welt ist" (8 sinngem.), somit die Verbindung offenbarend die die Grundlage der Beziehung zwischen Kirche und Welt ist, in der der erlösende Christus „ den Menschen sich selbst offenbart", so weit, dass der Mensch, der sich Christus nähert, „sich selbst bis auf den Grund erfassen kann" (10 sinngem.) Nun, dieses Christusmysterium ist das Leben der Kirche, die dem wahren Gut des Menschen gegenüber nicht gleichgültig bleiben kann. Das was die Christen den Menschen unserer Zeit geben müssen ist also die Wahrheit in Bezug auf das Mysterium und die Berufung des Menschen als Grundlage einer wahren Befreiung (Eröffnungsansprache bei der III. Generalversammlung des CELAM, Puebla 1979). Johannes Paul II. unterstreicht, dass die soziale Lehre der Kirche aus der Begegnung der evangelischen Botschaft mit den Problemen im Leben der Menschen und der Gesellschaft heraus entsteht. Die Kirche bietet keine Sozialphilosophie oder technische Lösungen, aber sie beeinflusst die ethischen Aspekte des Lebens und betrachtet die technischen, um ihre Konformität mit dem was das Evangelium über den Menschen und seine Würde lehrt, zu prüfen und dementsprechend das Verhalten zu gestalten (SRS 8,41).
Die Enzyklika Laborem excercens, anlässlich des 90jährigen Jubiläums der Rerum novarum in einem von der Schaffung der polnischen Gewerkschaft Solidarnosch geprägten, historischen Zusammenhang verfasst, ist dem Thema der Arbeit gewidmet, das seit Urbeginn das Hauptthema der sozialen Frage bildet. Denn „die Arbeit ist eine der Eigenschaften, die den Menschen von den anderen Geschöpfen unterscheidet (...) und die einen besonderen Aspekt des Menschen und der Menschheit in sich trägt; (...) dieser Aspekt bestimmt in gewisser Weise ihr ureigenstes Wesen" (Einleitung, sinngem.)
In unserer Zeit haben die erstaunlichen Fortschritte der Technik die objektiven Arbeitsbedingungen grundlegend verändert; es ist jedoch unleugbar, dass die Technik allein nicht zur Weiterentwicklung der Kultur beiträgt. Es besteht ja auch eine „subjektive" Dimension der Arbeit: als Person, „arbeitet der Mensch, führt bestimmte Handlungen aus, die zum Arbeitsprozess gehören; unabhängig von ihrem objektiven Inhalt müssen sie zur Verwirklichung seiner Menschlichkeit beitragen, zur Berufung wahrhaft Mensch zu sein, was ihm durch die Menschlichkeit selbst innewohnt" (6 sinngem.) Gegen die im Kapitalismus und Sozialismus bestehenden Trends, die Wirtschaft in den Mittelpunkt der Menschenbetrachtung und –auffassung zu stellen, somit den Menschen ein Unrecht zufügend, muss man also ableiten, dass die Aufgabe des Menschen nicht der Besitz und die Organisation von irdischen Dingen ist, sondern die Tatsache, dass er durch seine Arbeit „nicht nur die Natur verwandelt, sie seinen Erfordernissen anpassend, sondern dass er auch sich selbst als Mensch verwirklicht und in gewisser Weise sogar zu einem noch wahreren Menschen wird" (9 sinngem.)
Johannes Paul II weist des weiteren darauf hin, dass der arbeitende Mensch kein isoliertes Wesen ist, sondern in einer Gemeinschaft lebt, die – bereits in der Familie – „durch die Arbeit entsteht, erste Schule der Arbeit ist", um dann in der Nation ihren Höhepunkt zu erleben; also dient die Arbeit des Einzelnen dem gemeinsamen Gut der Landsmänner und vermehrt das gemeinsame Erbe.
Aus dieser Perspektive wird der Individualismus nicht überwunden indem man, wie im Marxismus, auf ein „Klassen"-Konzept zurückgreift und das Mittel des „Klassenkampfes" einsetzt. Zwischen der Familie und der grossen nationalen Gesellschaft bestehen Zwischenstrukturen, in einer Sozialisierungsdynamik, die die Subjektivität des Einzelnen im Rahmen der grossen sozialen Aufgabe schützt. Konkret gesagt, empfiehlt Laborem excercens den Weg zu versuchen, die Arbeit mit dem Kapitalbesitz zu verbinden und eine Reihe von Zwischenorganismen zu schaffen, deren Zweck wirtschaftlich, sozial und kulturell ist (14). Die Gewerkschaften werden als ein unabdingbares Element des sozialen Lebens erachtet, vor allem in der modernen Industriegesellschaft; allerdings darf sich ihr Handeln, obwohl es sich auf das politische Leben, im Sinne der Pflege des Allgemeingutes, auswirkt, weder mit dem der politischen Partien vermischen noch ihnen untergeordnet sein.
Die Würde der Arbeit offenbart sich schliesslich insofern, als durch sie der Mensch am Schöpferwerk Gottes teilnimmt, Christus’ Beispiel folgend, der sich auch der Arbeit und dem Handwerk widmete.
Im Jahre 1987, anlässlich des 20. Jahrestages der Populorum Progressio, widmete Johannes Paul II die Enzyklika Sollicitudo rei socialis den Ursachen der Unterentwicklung eines grossen Teils der Weltbevölkerung und den Mitteln um diese zu überwinden.
Ein Blick auf die zeitgenössische Welt ermöglicht es sehr rasch zu erkennen, dass die Hoffnungen auf Entwicklung weit von der Realität entfernt sind (12). Nicht nur eine Vielzahl Menschen lebt noch in schmachvollem Elend, sondern auch die Spaltung, ja der zwischen Norden und Süden der Welt bestehende Abgrund, wird immer grösser statt sich langsam zu schliessen. Dies beweisen die Wirtschaftsindikatoren der Unterentwicklung sowie die Kulturindikatoren: Analphabetismus, die Verleugnung des Rechts auf Wirtschaftsinitiativen, die Einschränkung der Menschenrechte, der teilweise Verlust der Souveränität der Nationen. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit fallen die Auswirkungen der Unterentwicklung in gewissem Masse auch auf die reichen Nationen zurück: die Beschäftigungskrise, die Wohnproblematik. Und alle sind vom Phänomen Terrorismus betroffen oder von den Völkerverschiebungen und dem Flüchtlingsproblem.
Dies zwingt uns, nicht nur das Handeln der verantwortlichen Politiker einer Analyse zu unterziehen, sondern auch die Wirtschafts- und Finanzmechanismen, die nicht als unvermeidbare Automatismen zu erachten sind (16). Doch die Unterentwicklung hat auch politische Ursachen: das Vorhandensein zweier einander gegenüber stehenden Blöcken, dargestellt durch den liberalen Kapitalismus einerseits und den marxistischen Kollektivismus andererseits; dies führt dazu, dass die entwickelten Länder Teile eines imperialistischen oder neokolonialistischen Getriebes werden können (22). Besonders die beachtliche Ressourcen vertilgende Waffenproduktion und der Waffenhandel verursachen Ungleichgewichte, die zu Recht moralisch streng zu verurteilen sind (24).
Es gibt natürlich auch positive Merkmale der zeitgenössischen Gesellschaft, wie das volle Bewusstsein Vieler in Bezug auf die Würde des Menschen und grosse Aufmerksamkeit in Bezug auf die Menschenrechte; des weiteren das ausgeprägte Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit und der Solidarität, eine grössere Sorge um den Frieden und das Leben, eine grössere Fähigkeit zu einer verbesserten Lebensmittelentwicklung, usw.
Des weiteren erinnert die Enzyklika an die Tatsache, dass die Entwicklung nicht fälschlicherweise als geradliniger und fast automatischer Entwicklungsprozess gesehen werden darf und auch nicht ausgehend von einer „wirtschaftlich" geprägten Auffassung. Die Entwicklung misst man gemäss der Realität des Menschen, seinem spezifischen Wesen nach, seiner Fähigkeit, Besitz und Herrschaft der Güter und Waren seiner wahren unsterblichen Berufung unterzuordnen (29). So wird man zur Überwindung der Hindernisse gelangen, die sich der Entwicklung durch im wesentlichen moralische Entscheidungen, entgegenstellen, welche für den Gläubigen durch den Glauben und die Barmherzigkeit inspiriert sind.
Diese in Blöcke und unnachgiebige Ideologien und Imperialismen geteilte Welt, ist eine Welt, die sündigen Strukturen unterworfen ist. Diese sind das moralische Übel, Ergebnis vieler Sünden, deren Erkennen zu ihrer Überwindung erforderlich ist und zur Erkenntnis der Ursprünge der wahren Götzenverehrung führt: Geld, Macht, Ideologien, soziale Klassen, usw.
Der Weg ist lang und mühsam, bedroht durch die dem Menschen angeborene Schwäche; hier jedoch wird die geistige Haltung zum grundlegenden Element, eine Veränderung der Mentalität, eine Bekehrung. Beim Beschreiten dieses Weges kann das Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit der Beginn der Tugenden der Solidarität sein: indem man sich, innerhalb jeder Gesellschaft, als Menschen gegenseitig anerkennt; indem man anerkennt, dass die Güter der Erde allen Menschen gleichermassen zustehen; zwischen den Nationen, auf dass die stärkeren sich für die Schwächeren verantwortlich fühlen. Alle Strukturen der Sünde überwindend, ist die Solidarität ein Weg zu Frieden und Entwicklung; als christliche Tugend offenbart sie eine tiefgehende Dimension wahrer Dankbarkeit, wahrer Fähigkeit der Vergebung und Versöhnung.
Die Kirche bietet weder alternative Ideologien noch technische Lösungen; sie weiss, als Erfahrene in Sachen Menschheit, dass Entwicklung keine rein technische Angelegenheit ist. Angesichts der weltweiten Problematik der sozialen Frage, empfindet die Kirche, aus ihrer grossen Liebe zu den Armen heraus, die Pflicht, die wahren menschlichen Dimensionen der wirtschaftlichen, sozialen und auch technischen Probleme aufzuweisen (42). Konkret bedeutet dies, dass angesichts der enormen Problematik der Armut und der Unterentwicklung, einige Reformen durchaus notwendig sind: die des internationalen Handelssystems, des internationalen Währungs- und Finanzsystems, des Technologieaustausches, die Überprüfung der Strukturen internationaler Organismen (43).
„Die Völker und die einzelnen Individuen streben ihre Befreiung an". Vor der Versuchung der Verzweiflung, verteidigt die Kirche mit Nachdruck die Möglichkeit, die der Entwicklung und Befreiung entgegenstehenden Hindernisse durch das Vertrauen in das göttliche Versprechen zu überwinden; Versprechen, das verhindert, dass Gottes Reich dem Menschen verschlossen bleibt und dem Menschen vertraut, da in ihm, als Ebenbild des Schöpfers, nicht nur Sünde besteht sondern auch eine grosse Güte; eine Güte, auf die die Liebe des Erlösers und der Heilige Geist einwirken (47).