der Wallfahrtsort: Gedächtnis, Anwesenheit und Prophetie Gottes, der mit uns ist

von

Prof. Bruno Forte, Roma

Wo wohnt Gott? Wo kann man sein Wort, seine Stille und das Geschenk seiner Gnade erfahren? Die jüdisch-christliche Tradition antwortet in ureigener Weise auf diese Fragen und verweist auf einige Zeichen in der Geschichte, die zeigen, dass der dreifach heilige Gott inmitten der Menschen „sein Zelt aufgeschlagen" hat. Vor allem das Geheimnis des Tempels erhellt diese Suche. Es lässt sich in der biblischen Tradition unter den drei Blickpunkten erforschen, die den drei Dimensionen des Tempels entsprechen. In Bezug auf die einzige und definitive Vergangenheit des Heilsgeschehens erinnert der Tempel an unsere Abstammung vom Herrn des Himmels und der Erde. In Bezug auf die Gegenwart der Gemeinschaft der Erlösten, zeichnet sich der Tempel als ein Zeichen der göttlichen Gegenwart ab, als Ort des Bundes und der Begegnung mit der aus diesem Bund entstandenen Gemeinschaft. In Bezug auf die zukünftige Vollendung des Versprechens Gottes ist der Tempel ein prophetisches Zeichen der göttlichen Zukunft im Heute des Menschen. Im Licht des Geheimnisses des Tempels lässt sich also eine Theologie des Heiligtums als Ort der Gegenwart Gottes und als Zeit des Bundes mit ihm entwickeln.

Das Heiligtum ist zunächst Zeichen des Gedächtnisses. Das bedeutet: In der jüdisch-christlichen biblischen Tradition ist es nicht einfach ein von Menschenhand, von Fleisch und Blut geschaffenes Werk voller kosmologischer und anthropologischer Symbole, sondern es entspringt der Initiative des in der Geschichte lebendigen Gottes, an den sich der Glaube immer wieder neu erinnert. Das Heiligtum ist das Haus des Ewigen, erfüllt von der Wolke seiner Gegenwart (vgl. 1 Kön 8,10.13) und von seiner Herrlichkeit (vgl. Vers 11). In der Atmosphäre der Anbetung, der Anrufung und des Lobes weiß Israel, dass es sein Gott selbst war, der den Tempel als Zeichen der Liebe wollte und dass es nicht die menschliche Anmaßung war, die ihn dazu zwingen wollte. Dies bezeugt auf wunderbare Weise ein Gebet Salomons, der sich klar bewusst ist, dass man der Versuchung zum Götzendienst erliegen kann: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe! ... Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Nacht und bei Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll. Höre auf das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte verrichtet" (1 Kön 8,27-29). Das Heiligtum wird also nicht gebaut, weil Israel den Ewigen einsperren möchte, sondern, ganz im Gegenteil, weil der lebendige Gott, der in die Geschichte eingetreten ist und sie zu einer Heilsgeschichte gemacht hat, ein Zeichen seiner Treue und seiner immer lebendigen Anwesenheit inmitten seines Volkes setzen will.

Der Tempel ist nicht das von Menschenhand gebaute Haus, sondern der Ort der die Initiative dessen bezeugt, der alleine das Haus erbaut: Diese Wahrheit wird den Worten des Propheten Nathan anvertraut: „Geh zu meinem Knecht David, und sag zu ihm: So spricht der Herr: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? ... der Herr wird dir ein Haus bauen ..." (2 Sam 7,5.11). Das Heiligtum erinnert demnach auf lebendige Art und Weise daran, dass das auserwählte und geliebte Bundesvolk seinen Ursprung bei Gott hat. Es unterstreicht die Tatsache, dass man als Volk Gottes nicht von Fleisch und Blut abstammt, sondern dass das Glaubensleben der wunderbaren Initiative Gottes entspringt, der in die Geschichte eingetreten ist, um uns mit ihm zu vereinen und unser Herz und Leben zu verändern. Der Tempel verkündet also allen Generationen, wie groß die Liebe unseres Gottes ist und bezeugt, wie er uns als Erster geliebt hat und unser Erlöser sein will. Was im Alten Testament der Tempel von Jerusalem war, findet im Neuen Testament seine höchste Erfüllung in der Mission des Sohnes Gottes, der selbst zum neuen Tempel wurde, zur Wohnung des Ewigen unter uns, zum Bund selbst (vgl. Joh 2,19-22). Christus ist der neue Tempel, der ersehnte und versprochene Tempel, das Heiligtum des neuen und ewigen Bundes. Jedes Mal, wenn Israel mit den Augen des Glaubens auf den Tempel geschaut hat, jedes Mal, wenn die Christen mit eben diesen Augen auf Christus, den neuen Tempel, schauen und auf die Tempel, die sie selbst seit dem Edikt von Konstantin als Zeichen des lebendigen Christus unter uns erbaut haben, haben sie in diesem Zeichen die Initiative der Liebe jenes Gottes erkannt, der für die Menschen lebt. Das Heiligtum ist die ständige Aktualisierung der guten Nachricht von der Unentgeltlichkeit und Treue der Initiative unseres Gottes, die freudige Verkündigung, dass „Gott uns nicht liebt, weil wir gut und schön sind, sonder uns gut und schön macht, weil er uns liebt" (Luther). In das Heiligtum tritt man also ein mit dem Geist der Anbetung und der Danksagung, wissend, dass wir vom Andern geliebt wurden, bevor wir fähig waren, Ihn zu lieben. Das zeigt, dass die wahre Berufung des Lebens nicht so sehr die Zerstreuung ist, sondern das Lob, die Danksagung, der Friede und die Freude, dem Herrn von Herzen und mit dem Leben danke zu sagen. Die Theologie des Tempels führt uns auf diese Weise dazu, Geschmack zu finden an der kontemplativen Dimension des Lebens in all seiner Unterschiedlichkeit und dem Reichtum seiner Ausdrucksweisen.

Das Heiligtum ist zweitens das Zelt der Begegnung, der Ort des Bundes der Menschen mit dem Ewigen unter ihnen. Wenn der fromme Israelit zum Tempel geht, entdeckt er dort und in dem Moment von neuem die Treue des Gottes der Verheißung und das Geschenk der Auserwählung seines Volkes. Wenn die Jünger auf Christus, den neuen Tempel, schauen, wissen sie, dass der christliche Gott immer unter ihnen und für sie lebendig und gegenwärtig ist. Der Tempel ist der Ort, an dem sich die Kirche immer wieder neu als Gemeinschaft der Heiligen erfährt: Es ist der Heilige, der unter den seinen und in ihren Herzen wohnt und aus ihnen seinen lebendigen Tempel macht. Der Tempel aus Stein verweist auf den, der uns zu einem Tempel aus lebendigen Steinen macht; er verweist auf den Geist Gottes, der auf uns herab kommt, um unser Herz und unser Leben zu erneuern und uns in ihm zu vereinen. Der Tempel ist der Ort des Geistes, denn dort verwandelt uns die Treue Gottes entsprechend dem Willen des Ewigen in ein Volk des Lebens, das von oben kommt, und zwar durch die Zeichen des neuen Bundes, die der Tempel verwahrt und anbietet. Zu diesen Zeichen gehört allen voran das Wort Gottes. Der Tempel ist schlechthin der Ort des Wortes, durch das der Geist zum Glauben aufruft und die „congregatio fidelium" schafft. Von daher ist es wichtig, das Heiligtum in Verbindung zu bringen mit dem ständigen und offenen Hinhören auf das Wort Gottes, das nicht irgend ein menschliches Wort ist, sondern der lebendige Gott selbst im Zeichen des Wortes. Die sakramentalen Handlungen sind dann Orte der Begegnung der Lebenden mit demjenigen, der sie lebendig macht und sie mit ständig neuem Leben und den Tröstungen des Heiligen Geistes nährt und stärkt.

Man pilgert also zum Heiligtum wie zum Tempel des lebendigen Gottes – Zeichen seiner Gegenwart und Ort des lebendigen und neuen Bundes mit ihm –, damit der Heilige Geist unsere Herzen neu erfülle, damit das Wort Gottes lebendig für uns erklinge, damit die Gnade der Sakramente unser Herz, das oft ermüdet unter den Widersprüchlichkeiten und Sünden, befreie und uns Pilgern des Herrn die Kraft schenke, wieder mit neuer Hoffnung zu beginnen, um inmitten der Menschen transparente und ansteckende Zeugen des Ewigen zu sein. Im Heiligtum entspringt immer wieder neu die Kirche der im lebendigen Gott lebenden Menschen. Das Heiligtum drängt uns zur Solidarität mit den anderen; es drängt uns dazu, uns gegenseitig als lebendige Steine, die das Gebäude bilden, dessen Eckstein Christus selbst ist, zu stützen.

Der Besuch im Tempel hätte keinen Sinn, wenn er uns nicht gleichzeitig dazu drängen würde, in Gemeinschaft und missionarisch zu leben und im liebevollen und verfügbaren Dienst an den schwächsten und ärmsten seiner Geschöpfe zu stehen als Ausdruck der Feier der Ehre Gottes.

So erinnert uns der Tempel daran, dass unser Ursprung bei Gott ist; er ruft uns ständig dazu auf, jene Gott zu lieben, der an die Geschichte gekreuzigt ist, und er macht uns ständig bewusst, dass wir gesandt sind, das von ihm erhaltene Geschenk mit den andern zu teilen, um ihnen zu dienen, indem wir mit ihnen den Weg in Gemeinschaft suchen.

Schließlich ist das Heiligtum als Andenken an unseren Ursprung beim Herrn und Ort unseres Bundes mit Ihm die Vorwegnahme und Prophetie unserer letzen und endgültigen Heimat, des Reiches Gottes, wo „alles in allem" (1 Kor 15,28) ist. Das Zeichen des Heiligtums sagt uns nicht nur, woher wir kommen, auch nicht nur, wer wir sind, sondern es weitet unseren Blick, damit wir erkennen, wohin wir gehen und welches das Ziel unserer Pilgerreise im Leben und in der Geschichte ist. Der historische Tempel verweist auf das himmlische Jerusalem, unsere Mutter, auf die Stadt, die wie eine Braut geschmückt von Gott herabkommt, auf den eschatologischen Tempel und das Heiligtum der Seligkeit, wo es weder Tränen, noch Trauer, noch Schmerz, noch Tod gibt. So wird das Heiligtum zum einem „Zeichen" der theologischen Hoffnung und verweist auf einen weiteren Horizont, der die Verheißung aufschließt, die nicht enttäuscht. Es ist bezeichnend, dass das Volk der Gläubigen auch angesichts des größten Leides immer das Bedürfnis hatte, seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, indem es den Tempel als Heiligtum der Anbetung und des Lobgesangs gebaut und wiederaufgebaut hat. Das Heiligtum bezeugt, dass wir geschaffen sind, immer wieder neu den Tod durch den Sieg Christi zu überwinden, bis wir in der Seligkeit der Heiligen angelangt sein werden. Die Gemeinschaft, die ihren Gott im Heiligtum feiert, erinnert daran, dass sie in ihrem Wesen eine pilgernde Kirche ist. Der bestehende Tempel ist nicht der Endpunkt. Die Gläubigen kosten zwar darin die Schönheit des göttlichen Geschenks, aber sie erkennen, dass sie noch nicht angekommen sind. Vielmehr spüren sie das Heimweh nach der ewigen Heimat und den Wunsch nach dem Himmel. Das Heiligtum verweist auf den Lebensstil einer Kirche, die arm und dienend auf dem Weg und auf das noch unerreichte himmlische Jerusalem ausgerichtet ist. Jedes Mal, wenn die Gemeinschaft sich im Heiligtum versammelt, tut sie dies, um sich an das andere Heiligtum zu erinnern, die künftige Stadt, die Wohnung Gottes, die wir durch den Einsatz unseres Lebens schon auf dieser Welt errichten möchten. Wir kommen nicht umhin, diese Wohnung voll Hoffnung und im Bewusstsein unserer Grenzen zu erwarten. Das Geheimnis des Tempels ruft der Kirche ihre vorübergehende Verfasstheit in Erinnerung, die Tatsache, dass sie immer zu einem größeren Ziel unterwegs ist, der zukünftigen Heimat, die das Herz mit Hoffnung und Frieden erfüllt.

Aus diesen Gründen ist das Heiligtum – schon allein aufgrund seiner Existenz – eine Anfechtung jedes weltlichen Absolutismus, jeglicher despotischen Macht, jeglicher Ideologie, die alles über den Menschen aussagen will. Denn es erinnert uns daran, dass es eine andere Dimension gibt, jene des Reiches Gottes, das noch in seiner Fülle kommen soll.

Im Tempel erwächst die ethische und politische Berufung der Christen, innerhalb der Geschichte ein im Evangelium begründetes kritisches Gewissen gegenüber menschlichen Vorschlägen zu sein. Die Christen sind gerufen, die Menschen in ihrem Gewissen aufzurütteln und zu ihrem höheren Schicksal zu rufen: nicht mittelmäßig zu werden und zu verarmen in der Kurzsichtigkeit dessen, was verwirklicht wird, sondern sich unablässig als Ferment für eine Gesellschaft einzusetzen, die gerechter und menschlicher ist, besonders für die ärmsten und am meisten leidenden Weggefährten.

Im Tempel lernt das Volk Gottes, eine Kirche der Hoffnung und der Freude zu sein. Wer in das Geheimnis des Heiligtums eingedrungen ist weiß, dass Gott in dieser Geschichte der Menschen schon am Werk ist, dass schon jetzt – trotz des Dunkels der heutigen Zeit – die kommende Zeit angebrochen ist, dass das Reich Gottes schon am Entstehen ist und dass unser Herz deshalb schon voll Freude, Zuversicht und Hoffnung sein kann, trotz des gegenwärtigen Schmerzes, des Todes, der Tränen und des Blutes, die über das Angesicht der Erde fließen. Psalm 122, einer der Psalmen, die von den Pilgern beim Aufstieg zum heiligen Tempel gesungen wurden, besagt: „Ich freute mich, als man mir sagte: "Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern"...". Dieses Zeugnis widerspiegelt die gesamte Theologie des Tempels. Als „Haus des Herrn" hält das Heiligtum allen den Horizont des verheißenen Landes und die Dimension der Hoffnung vor Augen. Es ruft alle auf, sicher zu sein, dass Gott schließlich trotz allem und gegen alles siegen wird, weil er in Christus die Welt schon überwunden hat. Das Heiligtum ist das Zeichen der Prophetie, das sichere Zeichen, dass die Hoffnung keine Utopie ist, auch keine Flucht, sondern eine Erwartung, die nicht enttäuschen wird, weil sie auf dem gründet, der von den Toten auferstanden ist und in Herrlichkeit kommen wird, auf Christus dem neuen Tempel, dem Heiligtum der letzen und endgültigen Erfüllung. Und diese Hoffnung braucht die postmoderne Zeit – in der wir gerufen sind zu leben – mehr denn je.