Eine von der Weisheit geprägte Sicht
Wir sind eingeladen, voller Dankbarkeit auf das Pontifikat von Johannes Paul II. zu blicken, dessen 25. Jahrestag wir gefeiert haben: ein Vierteljahrhundert am Übergang vom zweiten ins dritte Jahrtausend, während dessen sich Dinge ereigneten, die große historische Umwälzungen mit sich gebracht haben. Diese Umwälzungen sind nicht unbedeutend für das Leben der Kirche und ihre Mission und stellen eine große Herausforderung dar.
Da der Heilige Vater die pastorale Verantwortung für die Universalkirche trägt, ist er herausgefordert, den Sinn dieser Umwälzungen zu erkennen. Darüber sprechen wir später.
Inzwischen lässt sich eine Polarität im Wirken des Nachfolgers Petri hervorheben: Die apostolischen Reisen unterstreichen die Aufmerksamkeit für die Lokalkirchen; gleichzeitig gibt es Worte, Entscheidungen und Handlungen, welche die ganze Menschheit betreffen. Wenn von zwei Polen gesprochen wird, dann geht es aber nicht darum, eine Trennung zwischen zwei Bereichen zu ziehen, denn in der Kirche gibt es immer eine Durchdringung des Partikulären und des Universellen.
Die von der Weisheit geprägte Sicht: Diesen Aspekt möchten wir unterstreichen, denn die Weisheit hüllt alle Wesen und Begebenheiten in das Licht Gottes ein, den Ort ihrer letzten Daseinsberechtigung.
Die Enzyklika Fides et Ratio (Nr. 44) enthält diesbezüglich eine Seite von großer Bedeutung. Sie gibt die Intuition des Heiligen Thomas über die Natur der christlichen Weisheit wieder. Für den Aquinaten ist die Weisheit eine Gabe des Heiligen Geistes, die uns in die Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten einführt. Ich zitiere: „Die Weisheit erkennt auf Grund ihrer natürlichen Verwandtschaft (Konnaturalität), sie setzt den Glauben voraus und formuliert schließlich ihr richtiges Urteil von der Wahrheit des Glaubens her: "Die Weisheit, die zu den Gaben des Heiligen Geistes zählt, unterscheidet sich von jener (Klugheit), die zu den Tugenden des Verstandes gehört. Diese letztere nämlich erwirbt man sich durch das Studium: jene hingegen "kommt von oben", wie es der hl. Jakobus ausdrückt. So ist sie auch verschieden vom Glauben. Denn der Glaube nimmt die göttliche Wahrheit so an, wie sie ist: Eigenart der Gabe der Weisheit ist es hingegen, gemäß der göttlichen Wahrheit zu urteilen". Der Vorrang, den er dieser Weisheit zuerkennt, lässt den Doctor Angelicus freilich nicht das Vorhandensein zweier anderer ergänzender Weisheitsformen vergessen: die philosophische, die sich auf das Vermögen des Verstandes stützt, innerhalb der ihm angeborenen Grenzen die Wirklichkeit zu erforschen; und die theologische, die auf der Offenbarung beruht und die Glaubensinhalte prüft, wodurch sie zum Geheimnis Gottes selbst vorstößt."
Auf analoge Weise verwirklicht sich die Weisheit auf verschiedenen Ebenen unseres Geistes und diese Formen sind dazu berufen, sich in eine organische Einheit zu integrieren. Ich glaube, dass gerade darin das Prinzip der Einheit des Denkens von Johannes Paul II. liegt. Der Papst ist ein Philosoph: ein christlicher Philosoph, der offen ist für die Theologie. Und als Nachfolger Petri, Hüter des Depositum Fidei, bedient er sich vor allem der Theologie, um den exakten Sinn der Lehre darzulegen und sie in adäquate Worte zu fassen. Aber Johannes Paul II. ist zuallererst ein Mann des Gebetes.
Die Quelle seiner Inspirationen ist in erster Linie das Gebet, noch vor seinem Denken. Im Gebet findet er sein Prinzip der Einheit. Die jüngsten Texte nehmen explizit darauf Bezug. Ich denke an den „programmatischen" pastoralen und missionarischen Text, der in lapidarer Weise in Novo Millennio Inenunte ausgeführt ist: Heiligkeit und Gebet; dann denke ich an das Apostolische Schreiben Rosarium Virginis Mariae oder an die Enzyklika Ecclesia de Eucaristia. Wenn man nicht von den geistlichen Quellen dieser Texte ausgeht, läuft man Gefahr, die Logik, die der eindrucksvollen Zahl von Vorträgen und Dokumenten des gegenwärtigen Pontifikats zugrunde liegt, nicht zu verstehen.
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Die Weisheit gründet in der Kontemplation, dennoch leitet sie das Handeln. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, über die Beziehung zwischen Lehre und Pastoral nachzudenken. Die heute verbreitete Tendenz, die beiden voneinander zu trennen, geht gegen die Natur der Dinge, denn die Botschaft des Evangeliums ist eine Botschaft des Heils, ist Wort des Lebens, und die Verkündigung dieser Botschaft erfordert gleichzeitig die Anstrengung, dem Empfänger zu helfen, diese zu leben, ein diesen Anforderungen entsprechendes Leben zu führen und im theologalen und moralischen Leben zu wachsen. Dies sind ergänzende, ebenso wichtige Aspekte der Mission, wenn sie in ihrer Ganzheit betrachtet wird.
Beiträge zu einem oder mehreren Punkten der Lehre und das Beharren auf diesen Punkten lassen sich nur mit einer außergewöhnlichen Begabung von Johannes Paul II. erklären, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Manchmal verrät dieses Erkennen einen großen politischen Scharfsinn, aber es lässt sich nie nur auf die Politik, im vornehmsten Sinne des Wortes, reduzieren. Diese Zeichen der Zeit sind Spuren des Handelns oder des Planes Gottes in der Geschichte, und sie lassen sich nur im Licht des Glaubens verstehen.
Die Erfahrung der Totalitarismen hat den Heiligen Vater sehr stark geprägt. Es ist bezeichnend, dass seine Überlegungen zu diesem Thema sich spontan denjenigen Heiligen zuwenden, die mehr oder weniger direkt betroffen waren von diesen großen Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts: Sr. Faustina, Pater Kolbe, Sr. Theresa Benedicta vom Kreuz (Edith Stein). Ein direkter Zeuge sagte mir: einige dieser Entscheidungen versteht man tatsächlich nur, wenn man weiß, dass sie auf den Knien getroffen wurden.
In diesem Zusammenhang versteht man, welche Rolle der Heilige Vater beim Fall der Mauer von Berlin gespielt hat, oder bei einigen Initiativen, wie z.B. den Treffen in Assisi, bei denen Vertreter der Weltreligionen eingeladen wurden, für den Frieden zu beten. Welche Intuition hat zu einem solch gewagten Schritt geführt?
Zweifellos das Bewusstsein der Einheit der Menschheitsfamilie und das Bewusstsein, dass im Herzen jedes Menschen ein religiöses Gespür eingeschrieben ist. Denn jeder neigt dazu, in sich die grundlegende Haltung des Geschöpfs angesichts des Schöpfers einzunehmen, dem Gehorsam und ein der Wahrheit und der Gerechtigkeit entsprechender Lebenswandel gebührt.
Mit diesem überlegenen Sensus für die Herausforderungen der Geschichte lassen sich eine Reihe von ganz starken Handlungen verknüpfen. Ich möchte nur zwei davon anführen: der Papst, der das Kruzifix umfängt während der feierlichen Bitte um Vergebung der Schuld, am 12. März 2000, und sein Gebet an der Klagemauer in Jerusalem.
Ich habe vom Erkennen der Zeichen der Zeit und von einigen Handlungen mit starkem symbolischen Gehalt gesprochen, um zu zeigen, dass das pastorale Handeln einem von der Weisheit geprägten Blick entspringt.
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Wie Paul VI. hat auch Johannes Paul II. sich unaufhörlich dafür eingesetzt, die Intuitionen des II. Vatikanischen Konzils weiter zu entwickeln und dessen Entscheidungen durchzuführen. Von den zahlreichen Umsetzungen sind die beiden Kirchenrechtstexte und der Katechismus der Katholischen Kirche herauszuheben.
Ich möchte nun das Augenmerk auf die doktrinale Dimension richten. Es ist gemeinhin bekannt, welchen Beitrag Karol Wojtyla zur Ausarbeitung von Gaudium et Spes geleistet hat. Zwei Zitate tauchen immer wieder in seiner Lehre auf. Das erste ist die Nummer 22: „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung. Es ist also nicht verwunderlich, dass in ihm die eben genannten Wahrheiten ihren Ursprung haben und ihren Gipfelpunkt erreichen."
Meines Erachtens lässt sich im Lichte dieses grundlegenden Textes die tiefe Einheit der Lehre von Johannes Paul II. besser verstehen. Denn alles, was die Kirche über die Welt und ihre Bestimmung sagt, bezieht in der Tat seinen Sinn aus dem Geheimnis Christi. Während der Atheismus eines Feuerbach von einem Abdriften und einem Verfall der Christologie in der Anthropologie sprach, wird ganz klar das Gegenteil festgestellt, dass nämlich ein ganzheitlicher Humanismus im Geheimnis Christi seine authentische Grundlage findet. Zudem wird die organische Verbindung zwischen der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes und der Dogmatikkonstitution Lumen Gentium hervorgehoben.
Ich glaube, es ist nicht übertrieben, den eben zitierten Paragraphen 22 als Keimzelle der großen Enzykliken zu Beginn des Pontifikats zu sehen, die von den göttlichen Personen der Dreifaltigkeit sprechen, und denen man die Enzyklika Redemptoris Mater hinzufügen muss, die herausstellt, welche Verbindung zwischen Christus und der Seligen Jungfrau Maria besteht. In diesem Thema drückt sich die gesamte marianische Lehre des Heiligen Vaters aus. Rosarium Virginis Mariae definiert den Rosenkranz als ein christologisches und kontemplatives Gebet.
Auf der anderen Seite ist es gerade diese christologische Verwurzelung, die es Johannes Paul II. ermöglicht festzustellen, dass die Soziallehre der Kirche integraler Bestandteil seiner Lehre ist.
In Gaudium et Spes heißt es bei der Nr. 24, Abs. 3, „(...) dass der Mensch auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist."
Dieser Satz enthält zwei wichtige Aussagen. Die erste begründet das christliche Verständnis des Menschen: Der Mensch ist eine Person; er besitzt unantastbare Rechte, die die Gesellschaft und die andern absolut respektieren müssen. Dieses Prinzip kann sehr weitgefächert angewandt werden: von den Menschenrechten bis zur Bioethik.
Die zweite macht deutlich, dass sich die Menschlichkeit der Person im und durch das Geschenk ihrer selbst verwirklicht. Ein individualistisches Verständnis, in dem das Individuum auf sich selbst und die eigenen Interessen bezogen ist, wird ausgeschlossen. Die Lehre von der menschlichen Liebe und der Ehe sind unter anderem darin begründet.
In diesem Zusammenhang muss ein weit verbreitetes Vorurteil ausgeräumt werden: Johannes Paul II., so wird gesagt, ist sehr weitsichtig, wenn es um soziale Fragen geht, aber er ist starr und engstirnig, wenn es um Fragen der Sexualmoral und der Ehemoral geht. Meines Erachtens ist diese Kritik nicht gerechtfertigt. Das wird dann klar, wenn die Beziehungen zwischen Mann und Frau als der erste Ort dieses Respekts und der Anerkennung der Person betrachtet werden. Tatsächlich können Gesellschaften, in denen die Gleichheit zwischen Mann und Frau negiert und in denen die Frau als ein untergeordnetes Wesen betrachtet und behandelt wird, die Gewalt nicht in den Griff bekommen.
Johannes Paul II. erkennt die Zeichen der Zeit, wobei er nicht direkt den Geschehnissen Bedeutung beimisst, sondern den oft gegensätzlichen Tendenzen, die in der heutigen Gesellschaft wirken. Er ist sich bewusst, dass er mit der Verteidigung der Familie einen grundsätzlichen kulturellen Beitrag leistet. Dieser Einsatz für die Familie wäre aber unvollständig, wenn nicht gleichzeitig die Rechte der Frau und der menschliche Reichtum des weiblichen Genius anerkannt würden.
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Beim Versuch, das Prinzip der Einheit und die Kohärenz der Lehre eines besonders fruchtbaren Pontifikats herauszustellen, muss ich einige Dokumente und Handlungen weglassen, die ebenso wichtig sind. Ich zähle sie kurz auf.
Die Wahrheit bezüglich der menschlichen Liebe verweist auf die Wahrheit über den Menschen, und diese ist Voraussetzung für die Überlegungen zur Moral. Die große Enzyklika Veritatis splendor (1993) legt die grundlegenden Begriffe der christlichen Moral dar und zeigt zwei für die heutige Mentalität charakteristische Abweichungen auf: die strikte Trennung von Freiheit und Wahrheit und von Glaube und Moral. Evangelium vitae reiht sich in die Tradition von Veritatis splendor ein. Der Heilige Vater hat seine Autorität in Anspruch genommen, um besonders schwerwiegende Sünden, wie Abtreibung und Euthanasie zu verurteilen.
Um Wahrheit geht es auch in der anderen großen Enzyklika, Fides et Ratio (1998), die eine präzise Antwort auf die Krise der Wahrheit gibt.
Dann ist es wichtig, die Bitte um Vergebung zu erwähnen: Die heilige Kirche, in deren Schoss Sünder leben, vergibt und bittet um Vergebung. Der Hinweis auf die Reinigung des Gedächtnisses hat weiterführende Konsequenzen für die Ekklesiologie. In diesem Sinne hat Johannes Paul II. einen Weg für eine christliche Theologie Israels aufgetan.
Schließlich hat die Lehre vom Frieden durch den gegenwärtigen Pontifikat eine bedeutungsvolle Entwicklung erfahren.
Man müsste noch auf andere Themen eingehen, wie z.B. die Ökumene, den interreligiösen Dialog, die Inkulturation, aber leider ist die mir zur Verfügung stehende Zeit verstrichen.
+ Georges Card. Cottier, OP.