Heiligtümer und Volksfrömmigkeit
Prof. Louis Aldrich – Taipei
In diesem kurzen Vortrag versuchen wir die Beziehung zwischen den Heiligtümern oder Wallfahrtsorten und der Volksfrömmigkeit aufzuzeigen. Diese Grundbeziehung könnte folgendermaßen umschrieben werden: Während einerseits zur Definition eines Wallfahrtsortes gehört, dass er ein Ort reicher liturgischer Aktivitäten ist, die sich nicht auf Volksfrömmigkeit beschränken lassen, so ist doch auf der anderen Seite oft die Volksfrömmigkeit der Grund, dass es einen bestimmten Wallfahrtsort überhaupt gibt und dass sich so viele Gläubige von ihm angezogen fühlen.
Jesus, der auferstandene Herr, ist das „erhabenste und endgültige Heiligtum, um das sich die christliche Gemeinschaft versammelt". Folglich ist ein Wallfahrtsort, der oft aus der Volksfrömmigkeit hervorging, ein Zeichen der aktiven und andauernden Heilsgegenwart des Herrn in der Geschichte. Er ist ein Ort des Innehaltens, in dem das pilgernde Gottesvolk seine Gegenwart erfährt und im eigenen Glauben erneuert und gestärkt wird.
Für Gläubige sind die Wallfahrtsorte unter anderem eine Erinnerung an das „ursprüngliche außergewöhnliche Ereignis, das zu einer anhaltenden Frömmigkeit geführt hat". Sie sind ein bevorzugter Ort, an dem viele Zeichen „des göttlichen Beistandes und der Fürsprache der Seligen Jungfrau Maria, der Heiligen oder Seligen" geschehen. Schließlich sind sie „ein Aufruf zur Umkehr und zur Erneuerung des persönlichen Rufes zu einem Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe und zu einer vollkommeneren Nachfolge Christi". Wallfahrtsorte sind also Zeichen von Gottes gnädigem Eingreifen in die menschliche Geschichte oder Denkmäler der Menschwerdung und Auferstehung.
Wallfahrtsorte oder Heiligtümer sind besonders Orte des Kultes, in denen die Liturgie der Kirche einen besonderen Platz einnimmt. „Eine der Aufgaben, die den Heiligtümern zugeschrieben und vom Kodex des kanonischen Rechts bestätigt werden, besteht darin, die Liturgie zu stärken. ... Die Gläubigen, die von verschiedenen Orten zu einem Heiligtum kommen, sollten im Geist getröstet und durch die liturgischen Feiern gestärkt wieder nach Hause zurückkehren. ... Sowohl die Priester als auch die Pilger nehmen die starken am Wallfahrtsort gewonnenen Eindrücke des Kultes mit nach Hause." Neben der Feier des Sakraments der Versöhnung, der Heiligen Eucharistie, der Krankensalbung und anderer Sakramente, kann gerade die Volksfrömmigkeit eine wichtige Rolle spielen beim Erleben des Kultes in einem Heiligtum.
Der Begriff „Volksfrömmigkeit" benennt die verschiedenen Ausdrucksweisen des Kultes privater oder gemeinschaftlicher Natur, die – im Rahmen des christlichen Glaubens – nicht so sehr von der Heiligen Liturgie, sondern von Formen inspiriert sind, die von einer bestimmten Nation oder einem bestimmt Volk oder von dessen Kultur herrühren. Die Volksfrömmigkeit wurde zu Recht als ein „Reichtum des Volkes Gottes angesehen". Sie „bringt einen Durst nach Gott zum Ausdruck, den nur die armen und einfachen Menschen kennen, und der sie zu einer Großzügigkeit und zu Opfern befähigt, die bisweilen heldenhafte Züge des Glaubenszeugnisses annehmen". Gleichzeitig zeugt die Volksfrömmigkeit von einem „feinen Gespür für die tiefgründigen Eigenschaften Gottes: Väterlichkeit, Vorsehung sowie beständige und liebevolle Gegenwart. Sie führt auch zu inneren Haltungen, die sonst kaum in dem selben Maße wahrzunehmen sind: Geduld, das Bewusstsein, dass das Kreuz zum täglichen Leben gehört, Entsagung, Offenheit für andere sowie Frömmigkeit."
Abschließend kann man sagen, dass die mit einem bestimmen Wallfahrtsort in Verbindung gebrachten Formen der Volksfrömmigkeit – gerade weil sie auf das subjektive Empfinden und die persönliche Frömmigkeit des Glaubenden abgestimmt sind – eine ausgezeichnete Möglichkeit der subjektiven Vorbereitung für die objektiven Gnadengaben sind, die durch die in den Wallfahrtsorten gefeierten Sakramente – besonders die Sakramente der Versöhnung und der Eucharistie – gewährt werden.